15.09.2021
Die Tagung “Caring Communities” wurde von der reformierten Kirche Baselland am 11. September 2021 in Reinach durchgeführt.
Caring Communities Fotograf: Rudolf Steiner
Sorgende Gemeinschaft. “Ist nicht dies das zentrale Thema
des christlichen Glaubens und Lebens überhaupt?” So antwortet eine Teilnehmerin
der “Caring Communities”-Tagung kurz vor deren Beginn am Samstagmorgen. Ähnlich
formuliert es Kirchenrätin Cornelia Hof, als sie die Tagung mit einem Zitat von
Dietrich Bonhoeffer einläutet: “Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere
da ist.” Beide Aussagen treffen die kirchliche Situation in Corona-Zeiten im
Kern. Die Daseinsberechtigung der christlichen Gemeinschaft liegt in ihrem
Dienst an der Gesellschaft, an ihren Schwächsten, und ihren Bedürftigsten.
Diese Annahme konfrontiert die Kirche mit der Diskrepanz zwischen Ihrer Mission
und ihrer Realität, und ruft sie zur Selbstreflexion auf. Mit “Caring
Communities” versucht die reformierte Kirche Baselland diesem Ruf zu folgen,
und sich selbst und andere damit zu inspirieren.
Dafür richtet die Tagung ihren Blick auf konkrete Projekte im In- und Ausland, die zeigen, wie das Modell der Caring Community real aussehen kann. Die Antwort überrascht vielleicht gerade in ihrer Einfachheit: So, wie Menschen, die gemeinsam essen. Wie Quartiercafés, wo Geschichten erzählt und gehört werden. Wie Suppenküchen, Telefonketten und Wohngemeinschaften. Und gleichzeitig ist es auch wieder nicht so einfach, wie es jetzt klingen mag. Besonders wenn sie gelingen, erwecken solche Aktionen oft den Anschein, sie seien ganz einfach aus dem zufälligen Zusammenstossen von Menschen erwachsen. Aber: “Nicht jeder Jassclub oder Fussballverein ist eine Caring Community,” erklärt Peter Zängl, Professor für Soziale Arbeit an der FHNW. Wer ist es dann?
“Kommet her zu mir” hat ausgedient
Auch die klassische
Kirchgemeinde will in ihrer Idealform sorgende Gemeinschaft sein. In der Tat
sind die Landeskirchen mit die grössten Player im Bereich der
sozialen und der wohltätigen Arbeit in der Schweiz. Die kirchlichen Angebote,
die jetzt bereits bestehen, sind vielzählig – vielleicht sogar zu sehr. Denn
das Problem, so Simon Hofstetter, Beauftragter für Recht und Gesellschaft der
Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), ist ein anderes: “Die meisten
Kirchgemeinden kreieren ein Angebot und warten dann einfach, dass interessierte
Gäste auf sie zukommen”. “Komm!”-Strategie, nennt das Hofstetter – ein Modell,
das spürbar ausgedient hat. Die Idee der Caring Community, das wird im Verlauf
der Tagung deutlich, folgt nicht einer Angebotsstruktur. Sie funktioniert nur,
wenn Leute mit, statt nur für andere arbeiten. Dies betonen auch die
Initiatoren der verschiedenen Pojekte, die an den Tagungs-Workshops von ihren
Erfahrungen erzählen.
Die meisten Caring Communities sind lokalspezifisch engagiert. Sie sind nicht aus der Idee einzelner, sondern aus den Bedürfnissen des Quartiers entstanden. Solche Projekte wachsen organisch, lassen sich immer wieder neu erfinden, und zählen darauf, dass sich die lokale Bevölkerung, für die sie da sein möchten, auch selbst einbringt. Ein Beispiel dafür ist das Kreativ-Kollektiv Orbit in Winterthur, welches die Angewiesenheit jeder Gemeinschaft auf die Partizipation aller mit einem besonders schönen Projekt deutlich macht: dem Wunderkiosk. Dort bezahlten die Kunden nicht mit Geld, sondern mit ihren ganz persönlichen Wundergeschichten und Erinnerungen an Unglaubliches, das ihnen in ihrem Leben erfahren ist. So hat sich das ursprüngliche Angebot des Kiosks allmählich gewandelt, und jetzt finden Besucher dort statt Gegenständen einen Fundus an Erzählungen. Ein schönes Bild für eine Caring Community, deren Angebot sich eben aus den konkreten Leben derer speist, die zu ihrer Gemeinschaft Sorge tragen. Community ist nicht etwas, das man hat und anbieten kann, sondern etwas, das man gemeinsam erst schafft.
Heisses Herz und harter Franken
Viele der Caring Communities in der Schweiz sind aus
kirchlich inspirierten Initiativen entstanden. Kein Wunder: Die Landeskirchen
haben, wie Hofstetter meint, einen “dramatischen Standortvorteil”, mit ihrem
grossen bestehenden Netzwerk und ihren an bester Lage platzierten Gebäuden. Es
wäre eine verpasste Chance, so Hofstetter, würde sich die Kirche nicht als
Lehrerin in diesem Bereich anbieten, und würde sie nicht gehört. In der Tat ist
das Thema Caring Communities auch eines, das die gesamte Gesellschaft etwas
angeht. Das macht Rita Famos, Präsidentin der EKS, deutlich, wenn sie sagt: “Das
Sorgepotential, sei es in Heimen, Spitälern oder Quartieren, wird ein immer
knapperes Gut”. Das betrifft nicht nur diejenigen, die gelebte Nächstenliebe
als ihr Ideal anerkennen, sondern auch die Gesellschaft an sich, die auf diese
gelebte Nächstenliebe angewiesen ist.
Der
Freiwilligen-Boom zu Beginn der Corona-Pandemie hat gezeigt, dass viele diese
Notwendigkeit erkennen. Doch heute, Monate später, ist der Kreis der freiwillig
Helfenden bereits wieder deutlich kleiner geworden. Die Not, die gerade in der
Betreuung von kranken oder betagten Menschen herrscht, zeigt, dass es beim
Thema “Caring Communities” nicht nur um das Gefühl der Anteilnahme geht,
sondern auch um konkrete Strukturen, die nachhaltiges Engagement ermöglichen.
Peter Zängl formuliert es prägnant: “In der wohltätigen Arbeit braucht es
sowohl das heisse Herz, als auch den harten Franken.”
Das “heisse
Herz”, das spürt man bei all den Initiatoren, die an der Tagung von ihren
eigenen kleinen und grossen Communities erzählen. Das Gründerpaar der
Nachbarschaftsinitiative “Achtsamer 8.” in Wien drückt es so aus: “Alles hat
angefangen mit unserem Träumen von einem guten Leben für alle”. Dieses Träumen
steht für sie im Zentrum ihrer Arbeit – und doch gäbe es ihre Community nicht,
wenn es dabei geblieben wäre. Vernetzung, Netzwerkpflege, Bedürfnisabklärung
und Sponsoren-Suche gehören ganz zentral zum Aufbau einer nachhaltigen
Gemeinschaft. Vielerorts fehlt es nicht an Anteilnahme, sondern ganz
pragmatisch an den menschlichen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen.
Politik der Gemeinschaft
Ob Caring Communities in Zukunft zu einem prägenden
Bestandteil der Schweizer Gesellschaft werden können, hängt deshalb vor allem
von sozialpolitischen Entscheiden ab. Ein grosses Thema ist nachwievor die
ungerechte Verteilung von Care-Arbeit unter den Geschlechtern, die sich
statistisch aber auch in ganz konkreten Erfahrungen niederschlägt. “Egal, wo
ich suche, ich finde einfach keine Männer, die mitwirken wollen” meint eine Gründerin
einer Schweizer Nachbarschafts-Initiative, und erntet zustimmendes Nicken. Das
liegt vielleicht nicht so sehr am Wollen, sondern auch an dem Verhältnis von
Voll- und Teilzeitarbeit zwischen den Geschlechtern. Freiwilligenarbeit, das
zeigt die Tagung auf, verdankt Vieles dem grosszügigen Engagement Einzelner,
aber darf nicht darauf alleine beruhen, wenn sie nachhaltig sein und ihre
Mitwirkenden nicht der Gefahr eines Burnouts aussetzen will. Das kann letztlich
nämlich auch nicht im wirtschaftlichen und politischen Interesse einer
Gesellschaft sein, für die Themen wie Vereinsamung und Armut zu immer grösseren
Herausforderungen werden.
Die
Caring Community ist in der Tat, wie Eingangs behauptet, Kernthema des
christlichen Lebens. Aber eben nicht nur. Die Modelle sozialen Zusammenlebens,
die an der Tagung präsentiert und auch kritisch diskutiert wurden, betreffen
nicht nur Pfarrpersonen, sondern auch Stadtentwickler, Ökonominnen, Politiker
und Unternehmerinnen. Sie bieten Lösungsansätze für gesamtgesellschaftliche Probleme,
und benötigen gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Unterstützung und
Rahmenbedingungen für ihr Gelingen. Sorgende Gemeinschaften hat eine
Gesellschaft nicht einfach, sondern man muss sie schaffen.
Delphine Conzelmann
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